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Eine Linie zwei Welten: Von Scharnhorst zur Schafsherde

Eine Linie zwei Welten: Von Scharnhorst zur Schafsherde

Wir fahren jeden Monat mit einer Linie der BVG durch die Stadt. Dabei porträtieren wir zwei Kieze entlang der Strecke. Folge 93: Invalidenpark und Herzberge. Erstmals hier für Sie vorab online lesbar. Invalidenpark Dass es ein Wochenende ist, merkt man an der Kreuzung Chaussee-/Invalidenstraße nicht. Autos und Fahrräder rauschen vorbei, Tourist*innen schauen konzentriert auf ihre Mobiltelefone, um die nächste Sehenswürdigkeit anzusteuern oder einen Blick auf die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes zu werfen. Etwas ruhiger wird es hinter dem Naturkundemuseum im Invalidenpark. An einem der ersten sonnigen und warmen Tage kurz vor Frühlingsbeginn schlendern verliebte Paare über die Rasenflächen. Kinder erklimmen begeistert eine Granitskulptur. Als Mitte der 1990er-Jahre die Neugestaltung der Grünfläche erfolgte, konzipierte der französische Landschaftsarchitekt Christophe Girot die in der Spitze sieben Meter hohe und schließlich immer niedriger werdende Skulptur, die mit „Sinkende Mauer“ betitelt wurde. Die Anlage ist in der Anfangssequenz der Komödie „Brüno“ (USA 2009) mit Sacha Baron Cohen zu sehen. Die Kameraeinstellungen suggerieren den Zuschauer*innen, die Handlung spiele in Wien. 1  Das Geschäftshaus an der Kreuzung Chausseestraße/Invalidenstraße wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet. 2 Die Gedenkstätte Günter Litfin befindet sich in einer ehemaligen „Führungsstelle“ der DDR-Grenztruppen. Inmitten des Parks stand bis 1967 die Gnadenkirche, deren Grundsteinlegung am 11. Juni 1890 erfolgte. Der Name leitet sich von einer Schenkung ab: Das Deutsche Reich überließ das Baugrundstück dem Staat Preußen kostenlos. Kaiserin Auguste Viktoria unterstützte den kurz zuvor gegründeten Evangelischen Kirchenbauverein, der in industriellen Ballungszentren Preußens die Rückbesinnung auf christliche Werte forcieren und so den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie eindämmen wollte. Umgangssprachlich erhielt der Sakralbau den Namen Invalidenkirche. Die Bezeichnung basiert auf der unmittelbaren Nähe zum Invalidenhaus, dessen Areal seit 1990 das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) beherbergt. Der preußische König Friedrich I. plante bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts Unterkünfte für kriegsversehrte Soldaten. Doch erst als sich sein Enkel Friedrich II. mit Tausenden Verletzten aus den ersten beiden Schlesischen Kriegen (1740–1742 und 1744/45) konfrontiert sah, setzte er das Konzept nach französischem Vorbild um. Die Wahl fiel auf ein größtenteils unbesiedeltes Gebiet nordöstlich der Berliner Zollmauer. In der militärisch organisierten Einrichtung erhielten die Bewohner kostenlose Verpflegung, Kleidung und medizinische Versorgung. Um diese zu gewährleisten, hatte der preußische König ein Gelände unweit der Charité ausgewählt. Die Felder, auf denen später die Gnadenkirche und der Invalidenpark entstanden, dienten der Selbstversorgung. Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, sollte der Gebäudekomplex, der Wehrmacht unterstellt, fortan als Ausbildungszentrum dienen. In Frohnau wurde 1938 die Invalidensiedlung errichtet, die die Aufgaben des Invalidenhauses übernahm. Zu DDR-Zeiten fungierte das Areal in Mitte erst als Militärlazarett, anschließend als Krankenhaus, unter anderem für Politiker*innen. Mehr als 3.000 Beschäftigte arbeiten in der Zentrale des BND in der Chausseestraße. Nördlich an die Anlage schließt sich der Invalidenfriedhof an, der als Gartendenkmal unter Denkmalschutz steht. 1748 erfolgte die erste Bestattung, das Grab des Unteroffiziers existiert heute jedoch nicht mehr. Bei Wegearbeiten Ende der 1990er-Jahre wurden einige spätbarocke Sarkophaggräber aus Sandstein entdeckt, die aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen. Eines der imposantesten Monumente des Friedhofs ist das Grabmal von General Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755–1813), Namensgeber der von der Invalidenstraße Richtung Norden abzweigenden Straße, an der sich der Friedhof befindet. Das Grabmal wurde von Christian Daniel Rauch nach einem Entwurf Karl Friedrich Schinkels gestaltet. Der Friedhof ist nicht nur Zeugnis der preußischen Militärgeschichte, sondern auch der deutsch-deutschen Teilung. Ab 1951 beschloss der Magistrat von Ost-Berlin, keine weiteren Bestattungen mehr vorzunehmen. Mögliche Gründe könnten der militärhistorische Charakter oder der schlechte Zustand der Anlage sein. In seltenen Fällen wurde jedoch der Bestattung in bereits existierenden Familiengräbern zugestimmt. Der 1961 erfolgte Mauerbau hatte eklatante Folgen für die nun im Sperrgebiet befindliche Anlage. Mit dem stetigen Ausbau der Grenzanlagen erfolgte die sukzessive Zerstörung des Friedhofs. Gräber wurden verlegt oder verschwanden gänzlich. Gerade einmal 230 der zur Zeit des Mauerbaus noch 3.000 Grabstellen waren 1989 übrig. Ein Weg am Kanal, an dessen westlichem Ufer zahlreiche neue Wohnungen entstehen, führt zur Kieler Straße. Dort befindet sich die Gedenkstätte Günter Litfin. Das erste Opfer gezielter Schüsse zwischen Ost- und West-Berlin starb am 24. August 1961 beim Versuch, aus der DDR zu fliehen. Landschaftspark Herzberge Der Klang der Stadt ist vielstimmig. Das Blöken von Schafen gehört jedoch im Regelfall nicht dazu. Anders im Landschaftspark Herzberge: Seit 2009 lebt eine Herde Rauhwolliger Pommerscher Landschafe in der Grünanlage. Die ursprünglich in Norddeutschland beheimatete Art gilt als äußerst robust: Sie stellt wenig Ansprüche an Wetterbedingungen und Futter. In Lichtenberg fungieren die Wiederkäuer als beliebtes Fotomotiv und als natürliche Rasenmäher. Denn wenn die elektrische Variante zum Einsatz käme und alle Flächen zur gleichen Zeit kurz geschnitten würden, verschwänden Insekten und Bodenbrüter wie Eidechsen. Rauhwollige Pommersche Landschafe kürzen den Rasen auf natürliche Art und Weise. Seit etwa zehn Jahren bietet der Landschaftspark Herzberge eine Mischung aus Naturraum und urbaner Landschaft. Das 2004 von dem Verein Agrarbörse Deutschland Ost und dem Bezirksamt Lichtenberg initiierte Projekt besitzt Vorbildcharakter: Denn wo sich einst Brach- und Gewerbeflächen sowie nicht mehr genutzte Anlagen der Industriebahn befanden, erfolgte eine sukzessive Renaturierung, die 2013 größtenteils abgeschlossen war. Seit 2019 ist das Areal als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen. Die Stadtfarm, auf der in einem geschlossenen Kreislauf Fische und Gemüse gezüchtet werden, feiert in diesem Jahr das fünfte Jubiläum. Das Konzept ist einfach erklärt: Die Ausscheidungen der Fische fungieren als Dünger, der den Pflanzen zugutekommt, die wiederum das Wasser für die Fische reinigen. Inmitten des Areals befindet sich das Evangelische Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, das aus der Fusion des Königin-Elisabeth-Hospitals – einer in der Wilhelmstraße  gegründeten christlichen Einrichtung für erkrankte Kinder – und des Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Fachkrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie hervorging. Der Gebäudekomplex des heutige Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Westlich der Parkanlagen des Krankenhauses befindet sich das Gelände des ehemaligen Lichtenberger Stadions, das 1920 vom ersten Bezirksbürgermeister Oskar Ziethen eingeweiht wurde – direkt neben der zur gleichen Zeit fertiggestellten Anlage, die seit 1928 BVG-Stadion heißt und als Betriebssportanlage dient. Neben sportlichen Wettkämpfen fanden im Stadion Lichtenberg auch politische Veranstaltungen statt. Bei Kundgebungen des Roten Frontkämpferbundes und des Roten Jungsturmes hielt 1923 der spätere KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann eine Rede vor 40.000 Menschen. Innerhalb des Erdwalls befand sich das Stadion Lichtenberg. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs – am 20. Mai 1945 – rollte bereits wieder der Ball. Das Heimstadion der BSG Chemie Lichtenberg wurde 1973 in ein Zeltlager für Student*innen umgewidmet, das bis 1989 genutzt wurde. Nachdem die Anlage mehr als 20 Jahre dem Verfall ausgesetzt war, erfolgte die Abtragung. Ein Erdwall lässt die frühere Nutzung erahnen. Dieser jüngere, nördliche Teil des Landschaftsparks wird deutlich weniger von Spaziergänger*innen genutzt. Wenn hier nicht das freundliche Blöken der Schafe erklingt, herrscht bis auf das Rauschen der Bäume eine für Berlin ungewöhnliche Stille.   Text und Fotos: Ronald Klein

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