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Eine Linie zwei Welten: Ausflugsidyll und Großstadtflair

Eine Linie zwei Welten: Ausflugsidyll und Großstadtflair

Wir fahren jeden Monat mit einer Linie der BVG durch die Stadt. Dabei porträtieren wir zwei Kieze entlang der Strecke. Folge 107: vom Grunewaldturm zur Masurenallee.

Der 55 Meter hohe Grunewaldturm ist eines der Wahrzeichen an der Havel.

Grunewaldturm Die Gegend rund um die Havel führt viele Berlin-Klischees ad absurdum: Statt Autolärm lässt der Wind die Blätter leise rascheln. In der Ferne plätschern sanft die Wellen der Havel. Doch es gibt noch mehr positive Eindrücke, sobald Spaziergänger*innen den Bus verlassen haben. Der Weg neben der Havelchaussee ist zwar schmal, aber entgegenkommende Menschen grüßen freundlich. Wer für Radfahrer*innen Platz macht, erhält ein herzliches Dankeschön. Keine Frage, das Wald-Areal entfaltet seine positive Wirkung umgehend. Das war übrigens schon im 19. Jahrhundert bekannt. Die Lokale an der Landzunge Schildhorn galten als das beliebteste Ausflugs-Ziel der Berliner*innen am Sonntag. Geschichte des Grunewalds Zuvor diente das Waldgebiet drei Jahrhunderte lang den preußischen Kurfürsten und Königen für die Jagd. Kurfürst Joachim II. „Hector“ ließ Mitte des 16. Jahrhunderts an einem der Seen ein Jagdschloss errichten, das den Namen „Zum grünen Wald“ erhielt. Das ist der Ursprung des Begriffs Grunewald. Ab Ende des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Bauaktivitäten, denn Otto von Bismarck hatte nach einem Paris-Besuch 1871 große städtebauliche Visionen: „Auch die Straße am Kurfürstendamm wird nach den jetzt bestehenden Absichten viel zu eng werden, da dieselbe voraussichtlich ein Hauptspazierweg für Wagen und Reiter werden wird. Denkt man sich Berlin so wie bisher wachsend, so wird es die doppelte Volkszahl noch schneller erreichen als Paris von 800.000 Einwohnern auf 2.000.000 gestiegen ist. Dann würde der Grunewald etwa für Berlin das Bois de Boulogne und die Hauptader des Vergnügungsverkehrs dorthin mit einer Breite wie die der Elysäischen Felder durchaus nicht zu groß bemessen sein.“ Ende des 19. Jahrhunderts verkaufte der preußische Staat mehr als 200 Hektar Forst an ein Bankenkonsortium, das die Bäume roden ließ und am westlichen Ende des Kurfürstendamms eine Villenkolonie errichtete. Die Havel markiert den westlichen Rand Grunewalds und somit die entgegengesetzte Richtung der einstigen „Millionärskolonie“, wie das Areal rasch genannt wurde. An der Havel hat sich die Ausflugscharakteristik bis heute erhalten. Populär ist heutzutage beispielsweise der Kaisergarten am Grunewaldturm. Wer sich hier niederlässt, findet Stärkung und Erfrischung mit Snacks und Getränken – und lässt dabei in bequemen Liegen den Blick in die Ferne schweifen.  Einen noch besseren Ausblick bietet die 34 Meter höher gelegene Plattform des Grunewaldturms: bei gutem Wetter sogar bis Potsdam.

Blick über die Havel auf den Fernmeldeturm auf dem Schäferberg.

Ein opulentes royales Gedenken Der Architekt Franz Schwechten entwarf 1897 den Bau im Stil der märkischen Backsteingotik anlässlich des hundertsten Geburtstags des 1888 gestorbenen Kaisers Wilhelm I. Dies erklärt die opulente Portalgestaltung mit Verweisen auf die mittelalterliche Kirchenbaukunst. Zwei Wappen zieren den Turm: Auf der der Havel zugewandten Seite befindet sich der Rote Adler, das Wappentier Brandenburgs. Bis zur Eingemeindung nach Berlin gehörte Grunewald formell als selbständige Landgemeinde zum Kreis Teltow, was sich am Turm in der Inschrift „Der Kreis Teltow baute mich 1897“ widerspiegelt. Die dem Wald zugewandte Seite schmückt der preußische schwarze Adler. Seit dem Ende der Sanierung (2007-2011) sind Turm und Plattform wieder zugänglich. Ein außergewöhnlicher Friedhof Die östliche Seite der Havelchaussee eignet sich nicht nur für Waldspaziergänge. Hier befindet sich etwas versteckt im Jagen 135 einer der kleinsten Friedhöfe Berlins. Neben dem offiziellen Namen Grunewald-Forst trägt er auch die Bezeichnung „Friedhof der Namenlosen“. Im 19. Jahrhundert wurden hier Ertrunkene und Suizident*innen beerdigt, denen die Bestattung auf regulären christlichen Friedhöfen nicht gestattet wurde. Erst seit der Weimarer Republik handelt es sich um eine offizielle Ruhestätte, auf der jedoch seit 2018 keine Bestattungen mehr vorgenommen werden. Eines der prominentesten Gräber ist das von Christa Päffgen, die als Nico Weltruhm erlangte. 1938 in Köln geboren und in Berlin aufgewachsen, begann Päffgen in den 1950er-Jahre eine internationale Modelkarriere. Später zog sie nach New York, wo sie einige Songs mit The Velvet Underground aufnahm. Doch das war Nico zu wenig: Sie schrieb eigene Songs, die wenig mit der gängigen Rock- und Pop-Ästhetik der frühen 1970er-Jahre zu tun hatten. Nico setzte sich stets in lange, schwarze Gewänder gehüllt an ein Harmonium und sang mit einem außergewöhnlich tiefen Timbre verrätselte, metaphernreiche Verse. So nahm sie vorweg, was sich ab den 1980er-Jahren als Gothic beschreiben ließ. Nach einem Konzert in Berlin 1988 kippte sie auf Ibiza vom Fahrrad und starb wenig später. Ihr letzter Wunsch, dass ihre Asche unweit ihrer langjährigen Heimat in den Mooren Manchester verstreut würde, blieb unerfüllt.

Das Grab der Sängerin und Schauspielerin Nico auf dem Friedhof Grunewald-Forst.

Masurenallee Etwas mehr als 20 Minuten dauert die Fahrt nach Westend. Die Hälfte der Strecke davon führt weiter durch den Grunewald und zählt zu den schönsten Busstrecken der Stadt. Mehrmals täglich bietet übrigens die AG Traditionsbus Fahrten auf der 218er-Strecke in historischen Fahrzeugen an.

Ein Fahrzeug der AG Traditionsbus an der Masurenallee.

Die 500 Meter lange Masurenallee, die die Neue Kantstraße mit dem Theodor-Heuss-Platz verbindet, ist eine der wenigen Hauptverkehrsachsen der Stadt ohne Wohnhäuser. Neben dem Zentralen Omnibusbahnhof und dem Messegelände ist das Gebäudeensemble des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) prägend. Medienzentrum und Kabarettinstitution In dem 1931 fertiggestellten Haus des Rundfunks finden in unregelmäßigen Abstände Konzerte statt. Direkt daneben befindet sich das 1970 fertiggestellte SFB-Fernsehzentrum (heute rbb-Fernsehzentrum). Im gleichen Jahr zog der Sender Freies Berlin aus dem ebenfalls benachbarten Deutschlandhaus am Theodor-Heuss-Platz aus.

Das Fernsehzentrum des rbb wurde als SFB-Zentrale gebaut.

Die ursprüngliche Charakteristik des Anfang des 20. Jahrhunderts als Schmuckplatz errichteten Areals lässt sich heute nicht mehr erahnen. Lediglich ein Gebäude im Stil eines Märchenschlosses befand sich im Nordosten. Die Villa Tieck wurde als Mädchenpensionat genutzt. Zahlreiche der markanten Gebäude entstanden erst in den 1920er- und 1930er-Jahren – so wie das im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete Amerikahaus. Der Architekt Heinrich Straumer (1876 - 1937) zeichnete auch für den in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Funkturm sowie zahlreiche Villen in Dahlem und Frohnau verantwortlich. Im Amerikahaus befand sich der weltweit erste TV-Sender: Der Fernsehsender Paul Nipkow stellte 1934 in der nicht mehr erhaltenen Krolloper in Mitte vor, welches Potential in den bewegten Bildern steckte. Ab 1935 erfolgte der reguläre Betrieb, der vor allem durch die Berichterstattung zu den Olympischen Sommerspielen 1936 Hunderttausende vor die Bildschirme lockte. 1938 fand hier die erste Personenfahndung im Fernsehen statt, ein Jahr vor der Einstellung des regulären Betriebs. Von 1946 bis 1991 diente das „Summit House“ den britischen Streitkräften u.a. als Einkaufs- und Freizeitzentrum. Nach einem fast zehnjährigen Leerstand zog Dieter Hallervorden mit seiner Kabarettinstitution Die Wühlmäuse ein.

Eine Institution des Kabaretts: Die Wühlmäuse am Theo.

Text und Fotos: Ronald Klein  

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