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Eine Linie, zwei Welten: Vom kulturellen Epizentrum zu einem Kiez im Wandel

Eine Linie, zwei Welten: Vom kulturellen Epizentrum zu einem Kiez im Wandel

Die Spichernstraße – Spaziergang entlang kultureller Institutionen Schulklassen und Eltern pilgern durch die Schaperstraße zum Haus der Berliner Festspiele. Bis zum 28. April findet hier das Theatertreffen der Jugend statt. Kurse aus ganz Deutschland stellen im ausverkauften Haus ihre Produktionen vor. Mit antiquiertem Schultheater hat das nichts zu tun: Die Stückentwicklungen strotzen vor performativen und choreografischen Elementen. Mit dem Ende des Werkstatttreffens beginnt der Vorverkauf des regulären Theatertreffens. 60 Jahre Haus der Berliner Festspiele Am 12. Mai hebt sich der Vorhang der 60. Ausgabe des renommierten Festivals, das Philipp Stölzls siebenstündige Inszenierung „Das Vermächtnis“ eröffnet. Das Stück ist Teil der „zehn bemerkenswerten Inszenierungen“ aus dem deutschsprachigen Raum, gehört also zum Herzstück des Festivals. Neben Berliner Produktionen (Volksbühne, Deutsches Theater) sind unter anderen auch das Wiener Burgtheater, das Schauspiel Bochum und das Theater Basel beteiligt. In den knapp drei Wochen gibt es darüber hinaus ein innovatives Begleitprogramm, konzipiert vom neuen dreiköpfigen Leitungsteam. Auch wenn die Tickets im Vorverkauf rasch ausverkauft sind, lohnt sich der Gang zur Abendkasse, denn einige bestellte Karten werden nicht abgeholt. Blick hinter die Kulissen Der Bau des imposanten Gebäudes geht auf eine Initiative des Vereins Freie Volksbühne zurück. Der Verein setzte sich ab 1890 dafür ein, dass auch Arbeiter:innen ein Theaterticket bezahlen konnten. Ab Ende 1914 betrieb die Institution mit der Volksbühne am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz eine eigene Spielstätte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das in Ost-Berlin befindliche Haus dem Gewerkschaftsbund unterstellt. Die Freie Volksbühne fand im Theater am Kurfürstendamm eine Übergangsspielstätte – während Fritz Bornemann mit dem Bau eines Hauses in Wilmersdorf beauftragt wurde. Der Architekt hatte zuvor bereits die Amerika-Gedenkbibliothek (zusammen mit Willy Kreuer) und die Deutsche Oper Berlin geplant. 1963 konnte das Haus übergeben werden – seit 2001 nutzen es die Berliner Festspiele für ihre Theater-, Tanz-, Musik- und Literaturreihen. Anlässlich des 60. Jubiläum geben am 1. Mai Führungen einen spannenden Einblick in die Architektur und das Geschehen hinter den Kulissen. 30 Jahre Bar jeder Vernunft Eine weitere Institution direkt nebenan feierte im vergangenen Jahr das 30. Jubiläum. Die Bar jeder Vernunft stellte 1992 ihr neu erworbenes Spiegelzelt auf dem Parkdeck vor, das formal zur benachbarten Universität der Künste gehört. Plötzlich standen dort zwei Zelte, denn auch das Theatertreffen besaß eines, in dem Premierenfeiern und Diskussionsveranstaltungen stattfanden. Neben Otto Sander gehörten unter anderen Meret Becker, Cora Frost, Tim Fischer und die Geschwister Pfister zu den Künstlern, die das Gesicht der Bar jeder Vernunft in der ersten Spielzeit prägten. Mit dem Tipi am Kanzleramt gründeten die Betreiber der Bar jeder Vernunft 2002 eine weitere, in Tiergarten befindliche Spielstätte. Die Shows der Bar jeder Vernunft halten eine gesunde Balance zwischen Altbewährtem und Neuentdeckungen. Zu letzteren gehört zweifelsohne Vladimir Korneev. 1987 in der Sowjetunion geboren und in Berlin aufgewachsen ist der Schauspieler und Chansonnier einem breiten Publikum durch Gastrollen in unterschiedlichen Krimiserien bekannt. Sein Herz gehört jedoch der Bühne, vor allem der Bar jeder Vernunft, wo am 9. Mai sein neues Programm zur Uraufführung kommt. „Le droit d’aimer“ (dt. „Das Recht zu lieben“) stellt eine Hommage an Edith Piaf dar. Begleitet vom Pianisten und Arrangeur Markus Syperek, Cathrin Pfeifer (Akkordeon) und Tom Auffarth (Schlagzeug, Bass) interpretiert er Chansons wie „La vie en rose“, „Je ne regrette rien“ oder „Hymne à l’amour“. Musikalische Nachwuchsförderung Ein drittes Haus in unmittelbarer Nachbarschaft prägt das Gesicht der Bundesallee: Ludwig Giersberg und Johann Eduard Jacobsthal errichteten zwischen 1875 und 1880 das Joachimsthalsche Gymnasium im neoklassizistischen Stil. Die Schule siedelte bereits 1912 nach Templin um. 1955 zog hier das Städtische Konservatorium (ehemals Stern‘sches Konservatorium) ein. 1966 wurde das daraus hervorgegangene Julius-Stern-Institut in die Hochschule der Künste (heute: Universität der Künste) integriert. Durch das Foyer huschen Studierende, die häufig ein Instrument schultern. Neben dem akademischen Betrieb finden am UdK-Standort auch Kammerkonzerte statt. Turmstraße Nach nur sechs Minuten erreicht die U9 den Bahnhof Turmstraße. Der Ortsteil stellte aufgrund seiner Lage – komplett von Wasserstraßen umschlossen – einst ein industrielles Zentrum dar. An das alte Moabit erinnern zwar noch etliche, Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Gebäude, jedoch werden diese heutzutage größtenteils anders genutzt. Die Turmstraße ist die Hauptverkehrsachse des Kiezes – Autos rauschen vorbei und quirliges Treiben herrscht auf dem Bürgersteig. Doch derzeit prägen Bauarbeiten das Bild. Die Tram wird auf einer 2,2 Kilometer langen Trasse vom Hauptbahnhof zur U-Bahnhof Turmstraße verlängert. Die unterschiedlichen Gewerke arbeiten äußerst konzentriert: Die Haltestellen befinden sich kurz vor der Fertigstellung, in wenigen Monaten rollen hier Straßenbahnen. Das Krankenhaus Moabit und seine Geschichte An der Turmstraße befindet sich auch der Zugang zum Gelände des ehemaligen Krankenhauses Moabit. Das renommierte Klinikum wehrte sich ab 1985 fast 16 Jahre lang erfolglos gegen die sukzessive Schließung. Das Gebäudeensemble blickt auf eine lange Tradition zurück: Ursprünglich in den 1870er-Jahren als Seuchenstation konzipiert, fungierte es ab 1875 als reguläres Krankenhaus. Wenige Jahre später begann Robert Koch, hier Methoden der Desinfektion zu erforschen. Ohnehin besaß Aus- und Weiterbildung einen hohen Stellenwert. So entstand auf dem Gelände 1904 die erste Krankenpflegeschule Berlins. Wenige Jahre später erhielt die Institution den Status eines Universitätsklinikums, an dem auch Schwangeren- und Sexualberatung sowie die Behandlung Suchtkranker stattfand. Die Schrecken des Nationalsozialismus Einen deutlichen Einschnitt bedeutete die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Umgehend wurden die jüdischen Ärzt*innen entlassen. Das NSDAP-nahe neue Personal konnte den bisherigen Standard nicht halten, die Sterblichkeitsrate stieg dramatisch an. An die unrühmliche Zeit, in der auch zahlreiche Zwangssterilisationen stattfanden, erinnern heute Gedenktafeln. Heute beherbergen die historischen Gebäude unter anderem das Landesamt für Gesundheit und Soziales. Auch das ehemalige Fernsprechamt in der Lübecker Straße 2 an der Kreuzung Turmstraße dient nicht mehr der ursprünglichen Funktion. Während das Erdgeschoss noch von der Post als Verteilerzentrum genutzt wird, residieren in dem repräsentativen Bau mittlerweile unterschiedliche Firmen. Anders verhält es sich mit einem 1906 eröffneten neobarocken Gebäude: Das Amtsgericht Tiergarten ist mittlerweile sogar das größte Strafgericht Europas, in dem fast 400 Richter und Staatsanwälte arbeiten. Text und Fotos: Ronald Klein  

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