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Eine Line zwei Welten: Quirlige Kreuzung und grüne Oase

Eine Line zwei Welten: Quirlige Kreuzung und grüne Oase

Wir fahren jeden Monat mit einer Linie der BVG durch die Stadt. Dabei porträtieren wir zwei Kieze entlang der Strecke. Folge 108: vom Oranienburger Tor zum Humannplatz. Quirlige Kreuzung und grüne Oase – vom Oranienburger Tor zum Humannplatz Oranienburger Tor Der Autoverkehr rauscht vorbei. Auf dem Bürgersteig überholen die Berliner*innen hektisch die Tourist*innen, deren Tempo auf Entdeckungsmodus geschaltet ist. Die Kreuzung, an der Friedrich-, Tor-, Chausseestraße und Hannoversche Straße aufeinandertreffen, trägt bis heute den Namen „Oranienburger Tor“. Das dazugehörige Bauwerk stand hier nur bis 1867. Carl von Gontard hatte es Ende des 18. Jahrhunderts im Stil eines römischen Triumphbogens entworfen. Fast 100 Jahre später wurde es wieder entfernt. In der Tat deutet hier nichts mehr auf die Existenz der ehemaligen Zoll- und Akzisemauer hin. Fragmente des alten Stadttores lassen sich jedoch auch heute noch entdecken, nur an anderer Stelle: Albert Borsig, Sohn des Gründers der Borsig-Werke, erwarb Teile des 1867 als Verkehrshindernis abgebrochenen Tores und ließ sie auf sein Gut Groß Behnitz im Havelland transportieren, wo sie seitdem als Ziegelpfeiler des Eingangstores fungieren. Blickfang Neue Synagoge Wer von der Friedrichstraße aus in die Oranienburger Straße schaut, nimmt unmittelbar die golden glänzende Kuppel der Neuen Synagoge wahr. Der Name des nach den Plänen der Architekten Eduard Knoblauch und Friedrich August Stüler entworfenen und 1866 eingeweihten Gotteshauses verweist auf seine Vorgeschichte: Unweit des Hackeschen Marktes gab es bereits eine Synagoge, die jedoch der stark angewachsenen jüdischen Gemeinde nicht mehr genügend Platz bot. Das neue Bauwerk im orientalisierenden Stil fand Inspiration in der südspanischen Alhambra. Theodor Fontane schwärmte kurz nach der Fertigstellung in der Kreuzzeitung: „Wer sich für die architektonischen Dinge interessiert, für die Lösung neuer, schwieriger Aufgaben innerhalb der Baukunst, dem empfehlen wir einen Besuch dieses reichen jüdischen Gotteshauses, das an Pracht und Großartigkeit der Verhältnisse alles weit in den Schatten stellt, was die christlichen Kirchen unserer Hauptstadt aufzuweisen haben.“ Nicht nur hinsichtlich der Architektur nahm das Haus eine besondere Stellung ein, sondern auch in Bezug auf den technischen Fortschritt: Hier fand sich ab 1877 die erste elektrische Beleuchtung der Stadt.

Blick vom Oranienburger Tor in die Oranienburger Straße.

Missbrauch und Zerstörung Ein Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fand 1940 der letzte Gottesdienst statt. Die Wehrmacht missbrauchte die Synagoge fortan als Lagerstätte. 1943 erfolgten schwere Beschädigungen durch britische Bomber. Die sukzessive Zerstörung setzte sich fort: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden mehrfach Bauelemente aus dem Gebäude entfernt, sodass 1958 die endgültige Sperrung wegen Einsturzgefahr und ein Teilabriss erfolgten. Lediglich Teile der an der Straße gelegenen Bausubstanz blieben als Mahnmal gegen Krieg und Faschismus erhalten. Am 10. November 1988 fand die symbolische Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Ruine statt. Das Konzept spiegelte einerseits die Erinnerung an die prachtvolle Architektur wie auch die Sichtbarmachung der Zerstörung wider. Auf der Freifläche verdeutlichen Steine den einstigen Grundriss des Gotteshaues. Seit dem 7. Mai 1995 ist das Areal wieder für Besucher geöffnet. Die ständige Ausstellung illustriert die Geschichte jüdischen Lebens in Berlin. Rückkehr des pulsierenden jüdischen Lebens „Das ehemalige Scheunenviertel besitzt nicht nur historische Bedeutung – hier pulsiert auch jetzt wieder das jüdische Leben“, sagt Abraham Toubiana, Intendant der Jüdischen Kulturtage Berlin. Das Festival findet berlinweit wieder im September statt – unter anderem mit einem Literaturzelt auf dem Bebelpatz und dem Berlin-Debüt der US-amerikanischen Stand-up-Comedy-Legende Modi Rosenfeld. Bereits im Juli kommt es zur Neuauflage des koscheren Streetfood-Festivals. „Am 2. Juli präsentieren ab 11 Uhr auf dem Hof der Neuen Synagoge mehr als 20 Food-Trucks und Stände die Vielfalt der jüdischen Küche“, erklärt Toubiana das kulinarische Konzept. Der Eintritt ist frei.

Das Areal rund um das Tacheles.

Alternatives Kulturzentrum Tacheles Auf der anderen Straßenseite sind die Bauarbeiten des neuen Stadtquartiers „Am Tacheles“ in vollem Gange. Bagger legten vor einigen Jahren auf dem Areal zwischen Oranienburger- und Johannisstraße die Spuren der ersten Reformsynagoge Berlin frei, die auf Initiative des Redakteurs und Universalgelehrten Aaron Bernstein Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Seine Texte über Raum, Zeit, Lichtgeschwindigkeit und Elektrizität beeinflussten den jungen Albert Einstein. Die Bezeichnung „Am Tacheles“ geht auf das Kunsthaus Tacheles zurück. Eine Initiative von Künstler*innen besetzte kurz vor dem Ende der DDR das leerstehende Gebäude, in dem bis 1914 Geschäfte und ein Kaufhaus beheimatet waren. Die Aktivist*innen nannten sich selbst Kunstinitiative Tacheles. Das jiddische Wort bedeutet „Klartext reden“ und wurde als Ablehnung staatlicher Zensur gewählt. In den Folgejahren entstanden unter anderem Ateliers, das Café Zapata und ein Programmkino. Bands wie Test Department oder Feeling B gaben sich die Klinke in die Hand. Ebenso wurde es ein Epizentrum der freien Theaterszene. 2008 war endgültig Schluss, das Gelände wurde verkauft. Neben Büros, Wohn- und Gewerbeflächen soll hier künftig ein Museum für Fotografie seine Pforten öffnen. Parallel zum Tacheles entstand auf dem Hof der Friedrichstraße 122 das erste Fitnessstudio der DDR. Manfred Fischer begann Mitte der 1970er-Jahre mit dem Kraftsport. 1977 stellte er den Antrag, ein Studio zu eröffnen. Bekanntlich mahlten die Mühlen in der DDR langsam: 1988 wurde sein Gewerbeantrag genehmigt. Er begann mit dem Ausbau der Räumlichkeiten und fertigte auch die Geräte selbst an. Im September 1990 fand die Eröffnung statt. Fischers Keller wurde Kult. Hier trainierten Schauspieler*innen, Musiker*innen und sogar Sportmediziner*innen aus benachbarten Praxen. Wie so viele Spuren aus der Aufbruchsstimmung aus der Zeit rund um den Mauerfall ist auch dieses Studio verschwunden.

In der Chausseestraße 131 lebte der Liedermacher Wolf Biermann.

Wolf Biermanns Heimstudio An einen berühmten Mieter ein paar Meter weiter erinnern sich hingegen viele: Wolf Biermann lebte bis zu seiner Ausbürgerung aus der DDR in der Chausseestraße 131. Weil der Liedermacher Mitte der 1960er-Jahre aufgrund seiner kritischen Texte bei der DDR-Führung in Ungnade gefallen war, wurde ihm ein Auftrittsverbot auferlegt. Stattdessen spielte er im heimischen Wohnzimmer Songs mithilfe eines Tonbandgeräts ein. Die Aufnahmen wurden nach West-Berlin geschmuggelt. Klaus Wagenbach veröffentlichte 1968 den Prototypen des Do-It-Yourself-Prinzips unter dem Titel „Chausseestraße 131“. Die Platte machte die Adresse berühmt. Schräg gegenüber, in der Hannoverschen Straße 28-30, räumte die Bauakademie der DDR 1973 ihre Räumlichkeiten. Dort entstand 1974 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, deren erster Leiter Günter Gaus wurde. Große Aufmerksamkeit erlangte das Areal in den letzten Monaten der DDR: Im Sommer 1989 campierten 130 ausreisewillige Bürger*innen auf dem Gelände, das de facto den Status einer Botschaft hatte. Im September zogen sie ab – gegen Zusicherung der Straffreiheit, jedoch ohne Ausreisegenehmigung. Die Ständige Vertretung blieb bis nach dem Mauerfall temporär, ab dem 2. Oktober 1990 dauerhaft geschlossen. Heute befinden sich hier das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, die Abteilung Industriepolitik sowie der Standort Mitte des Max-Delbrück-Centers. In der Hannoverschen Straße ist es deutlich ruhiger als in der quirligen Friedrichstraße und der Oranienburger Straße. Die Stille auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof lässt einen dann den Standort in Mitte komplett vergessen. Auf dem 1762 angelegten und bis 1826 mehrmals vergrößerten Areal fanden zahlreiche Berliner Persönlichkeiten ihre letzte Ruhestätte, wie beispielsweise die Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte, Schriftsteller*innen wie Johannes R. Becher, Arnold Zweig und Anna Seghers oder der einstige Bundespräsident Johannes Rau. Einige Künstler*innen, deren Namen eng mit dem benachbarten Berliner Ensemble verknüpft sind, wurden hier ebenfalls begraben: Bertolt Brecht und Helene Weigel (die zu Lebzeiten unmittelbar am Friedhof wohnten), Dramatiker und Regisseur Heiner Müller sowie die Schauspielerin und Diseuse Gisela May.

Südlich des Kiezes am Humannplatz stehen Neubauten auf ehemaligen Brachflächen.

Humannplatz Eine gute Viertelstunde dauert die Fahrt zum Humannplatz, der ebenfalls durch die Abwesenheit von Hektik besticht: Auf der vor gut 100 Jahren angelegten Grünfläche von 118 mal 152 Metern rennen jauchzend Kinder umher. Als Namensgeber fungiert Carl Humann (1839-1896), der erst das Ingenieursstudium und wenig später die Zelte in Berlin abbrach. Ihn zog es in das Gebiet der heutigen Türkei, wo er sich an archäologischen Grabungen beteiligte und schließlich den Pergamonaltar entdeckte. Schlagartig wurde Humann berühmt und 1884 schließlich zum Abteilungsdirektor der königlichen Museen ernannt. Sein Amt erledigte er quasi im Homeoffice, denn er behielt seinen Wohnsitz im heutigen Izmir. An Pergamon oder Humann erinnert auf dem Platz nichts. Seine zwei Markenzeichen sind eine 1996 errichtete Stahlpyramide und das Café Bornträger. Der Name verweist auf die Großmutter der Pächterin. Leichte Gerichte, Kaffee und Kuchen sorgen stets für ein volles Haus, das übrigens zwischen 1936 bis zur Schließung in den 1990er-Jahren als Bedürfnisanstalt diente und nach fast 20-jährigem Leerstand seit 2015 zu einem beliebten Treffpunkt am Humannplatzes avancierte. Rund um den Platz befinden sich vor allem Wohnhäuser, aber auch mehrere Schulen und Kindergärten sowie die Kirche Heilige Familie. Das von Carl Kühn entworfene und 1930 eingeweihte, römisch-katholische Gotteshaus wird dem sogenannten Backsteinexpressionismus zugeordnet, der in den 1920er-Jahren vor allem in Deutschland, insbesondere im Norden und in Nordrhein-Westfalen, Verbreitung fand. Weiter geht es die Pappelallee entlang, Richtung Süden. Nach dem Überqueren der Gleise der Ringbahn ändert sich die Charakteristik des Kiezes: Moderne Neubauten auf ehemaligen Brachflächen sowie zahlreiche Cafés, Bars und kleine Läden kommen dem Bild deutlich näher, das gemeinhin mit dem Prenzlauer Berg assoziiert wird. Text und Fotos: Ronald Klein    

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